29. März 2024

„In den Beschlüssen der SPD kommt das Wort Bundeswehr kaum noch vor“

Der scheidende Wehrbeauftragte Hans-Peter Bartels (SPD) zieht Bilanz: In der Truppe gebe es noch immer flächendeckende Ausrüstungsmängel – und in der SPD einen geschichtsvergessenen Richtungswechsel. Und er spricht über eine „Sauerei“.

WELT: Herr Bartels, erinnern Sie sich an Ihren ersten Truppenbesuch als Wehrbeauftragter?

 

Hans-Peter Bartels: Ja natürlich, das war 2015 auf dem Truppenübungsplatz Bergen. Dort trainierte der erste Kampfverband, den Deutschland für die neue Nato-Speerspitze stellte. Ich hatte mir den Ort ganz bewusst ausgesucht, um zu zeigen: Unsere Streitkräfte haben es nicht mehr nur mit weit entfernten Auslandseinsätzen zu tun, sondern aufgrund der russischen Aggressionen in Osteuropa auch wieder mit der potenziellen Verteidigung des europäischen Bündnisgebiets. Eine starke Präsenz der Bundeswehr in der Mitte Europas ist erforderlich, um Stabilität zu sichern und unsere Solidarität mit den östlichen Bündnispartnern zu beweisen. Dazu aber muss die Bundeswehr möglichst als Ganzes einsatzbereit sein.

 

WELT: Und das Ergebnis?

 

Bartels: Die Panzergrenadiere hatten mir eine Liste mit 15.000 Ausrüstungsgegenständen zusammengestellt, die sie sich aus der gesamten Bundeswehr zusammenleihen mussten, damit 1000 Soldatinnen und Soldaten ihren Auftrag erfüllen können. Ich habe die Liste dann mit nach Berlin genommen – um diese militärische Mangelwirtschaft zu thematisieren. Das ist ganz gut gelungen.

 

WELT: Diese „existenziellen Ausrüstungslücken, die im schlimmsten Fall Leib und Leben der Soldaten gefährden“, tauchten dann auch in Ihrem ersten Jahresbericht an den Bundestag im Januar 2016 auf. Ist das Problem heute behoben?

 

Bartels: Es gibt immer noch flächendeckend große Ausrüstungslücken. Manches ist inzwischen graduell besser geworden, manches aber sogar noch schlechter. Panzer zum Beispiel werden jetzt in den Übungen mehr bewegt, nutzen sich schneller ab und fallen dann aus – sodass der Klarstand weiter sinkt. Immerhin sind die Lücken jetzt offiziell identifiziert. Und es gibt für die Zukunft ein sogenanntes Fähigkeitsprofil. Darin ist aufgelistet, welches zusätzliche Material die Bundeswehr in den Jahren bis 2031 benötigt – und was es kostet, nämlich mehr als 200 Milliarden Euro.

Man hat also einen Plan, das ist erst mal gut. Meine Kritik geht dahin, dass die Umsetzung viel zu lange dauert. Es braucht mehr Tempo. Die Aufgaben, für die unsere Soldaten eine Vollausstattung benötigen, sind ja heute schon da, nicht erst 2031.

 

WELT: Der Wehretat ist angewachsen in Ihrer Amtszeit, blieb allerdings schon in Zeiten gut gefüllter öffentlicher Kassen hinter dem Bedarf zurück. Und jetzt stecken wir in der Corona-Krise. Worauf muss sich die Bundeswehr finanziell einstellen?

 

Bartels: Der Anstieg von 32 auf 45 Milliarden Euro in den letzten fünf Jahren hilft schon einmal sehr. Aber nun wird es coronabedingt Verteilungskämpfe um den Haushalt geben. Die Verteidigungspolitiker werden hart argumentieren müssen. Verlieren sie diesen Kampf, dürfte es wie in der Schrumpfungsphase vor 2015 eine Priorisierung von Rüstungsprojekten geben, was heißt: Neue Hubschrauber, Schiffe, die Raketenabwehr, digitale Fernmeldetechnik werden auf die lange Bank geschoben oder ganz gestrichen.

 

Dann wird die lähmende Mangelbewirtschaftung noch über 2031 hinaus andauern – mit all den Folgen für die Verteidigungsfähigkeit Europas, die Zusagen an die Nato, für die Sicherheit der Soldatinnen und Soldaten im Einsatz und nicht zuletzt die Attraktivität der Streitkräfte als Arbeitgeber.

 

WELT: In Ihren fünf Jahresberichten tauchten viele Themen immer wieder auf: lahme Beschaffung, überbordende Bürokratie, Personalmangel. Ist der Wehrbeauftragte ein zahnloser Tiger, muss der Bundestag ihm die Krallen schärfen?

 

Bartels: Nein. Der Wehrbeauftragte hat keine exekutiven Kompetenzen und kann nichts entscheiden, das ist richtig. Aber er kann in alles reingucken, alle Vorgänge sehen und von den Soldaten erfahren, was sie wissen und erleben. So kann er den Abgeordneten und der Öffentlichkeit einen realistischen Eindruck vom Zustand der Bundeswehr verschaffen. Die Soldaten schätzen diese Ausdrucksform über den Wehrbeauftragten. Und das Parlament hat wie die Regierung meine Berichte ja durchaus mit zum Anlass genommen, Dinge zu ändern: von den sogenannten Trendwenden bei Material und Personal über die Finanzen bis hin zu sozialen Verbesserungen für die Soldaten. Die Wehrbeauftragtenberichte haben sicher geholfen zu verstehen, warum das nötig ist.

 

WELT: Neben den Jahresberichten bearbeiten Sie die jedes Jahr Tausenden Beschwerden von Soldaten. Wie oft können Sie helfen?

 

Bartels: In etwa der Hälfte der Fälle kann man dafür sorgen, dass dem Petenten auf die eine oder andere Weise geholfen wird. Manchmal gelingen auch grundlegende Veränderungen. So war es bei den gehäuft auftretenden Zusammenbrüchen und dem Tod eines Offiziersanwärters in der Ausbildung 2017. Da ging es um Überforderungen bei Übungsmärschen. Das hatte ich zu untersuchen – und habe, gemeinsam mit anderen Stellen, Verbesserungsvorschläge gemacht. Danach ist sehr schnell reagiert worden mit einer neuen, sportorientierten Grundausbildung. Die ersten sechs Wochen werden im Heer nun genutzt, die Rekruten auf einen höheren Fitnessstand zu bringen – und nicht gleich die Leistung abzufordern, die man hinterher von ausgebildeten Soldaten erwarten kann.

 

WELT: Wir haben aktuell den Fall eines KSK-Soldaten, bei dem Waffen und Sprengstoff gefunden worden sind. Wie groß ist das Extremismusproblem der Bundeswehr?

 

Bartels: Die Gefahr durch Rechtsextremismus ist etwas, was die Bundeswehr seit ihrer Gründung begleitet. Weil man das weiß, gibt es den Militärischen Abschirmdienst (MAD), der die Extremisten am besten von vornherein raushält – oder sie später rausfischt. Diese Arbeit wird jetzt mit vielleicht noch intensiverer Konsequenz betrieben. Und es gab dieses Jahr zum ersten Mal einen eigenen Tätigkeitsbericht des MAD über seine Abwehrarbeit. Ich hatte das gefordert, weil es ja eigentlich nicht sein kann, dass der Bericht des Wehrbeauftragten der einzige Ort ist, an dem die entsprechenden Fallzahlen veröffentlicht werden. So war es aber.

 

WELT: Wundert es Sie, dass es beim KSK eine Ballung von Fällen gibt? Eigentlich denkt man ja, in einer solchen Eliteeinheit wird ein besonders sorgfältiges Auswahlverfahren betrieben.

 

Bartels: Es wird auch besonders sorgfältig ausgewählt, aber dabei stand lange im Vordergrund: Wir suchen die Härtesten der Harten, die wir in der Ausbildung noch härter machen! Wenn das die Philosophie ist, dann kann das im Kopf von einigen Soldaten dazu führen, dass sie glauben, sie müssten auch politisch die Härtesten sein. Und dann kommen einige auf seltsame Bezüge zur deutschen Vergangenheit oder andere krude Theorien. Wohlgemerkt: Das gilt ganz bestimmt nicht für das ganze KSK, aber eben doch für zu viele, als dass man es als bedauerliche Einzelfälle abtun könnte. Da sind nun Sensibilisierung und Thematisierung im Kommando selbst die wichtigsten Maßnahmen. Ein früherer Heeresinspekteur hat einmal gesagt: Wegschauen und weghören wäre falsch verstandene Kameradschaft. Hingucken und melden ist eine Frage der Ehre! So sehe ich das auch.

 

WELT: Während Sie in Ihren Lageanalysen stets sehr deutlich waren, halten sich die höchstdekorierten Generäle mit öffentlicher Kritik zurück. Ist das dem Respekt gegenüber dem Primat der Politik geschuldet oder eher Karrieredenken?

 

Bartels: Es gibt eine angemessene Kultur der Loyalität im Verteidigungsministerium, manchmal aber auch eine etwas unnötige Kultur der Zurückhaltung, wenn es um die Wahrnehmbarkeit des aktiven militärischen Sachverstands in der Öffentlichkeit geht.

 

WELT: Ist Deutschland noch fest in der Nato verwurzelt?

 

Bartels: Stand heute, ja!

 

WELT: Die nukleare Teilhabe im Rahmen der Nato wird mittlerweile von drei der sechs Fraktionen im Bundestag infrage gestellt. Von Linken, Grünen – und der SPD.

 

Bartels: Das ist in der Tat bemerkenswert. Für sozialdemokratische Bundeskanzler hat der deutsche Beitrag zur atomaren Abschreckung eigentlich nie zur Disposition gestanden. Die SPD von Willy Brandt, Helmut Schmidt und Gerhard Schröder war eine Partei der realistischen Friedenspolitik, die Westbindung und eigene militärische Stärke als Voraussetzung für Abrüstung und Rüstungskontrolle sah. Wenn die SPD weiter einen Führungsanspruch erhebt, dann muss sie ihren Ort in unserer Welt der Gegenwart konkret bestimmen. Neutrales Beiseitestehen käme aus meiner Sicht dafür genauso wenig infrage wie ein nationaler Sonderweg. Deutschland wird für ein handlungsfähiges, selbstbewusstes Europa gebraucht, auch militärisch. Und für die Sicherheit Europas bleiben die USA ein unverzichtbarer Bündnispartner.

 

WELT: Ist die SPD unter ihren jetzigen Vorsitzenden und dem jetzigen Fraktionschef nicht eher auf dem Weg zu einer Partei der idealistischen Friedenspolitik?

 

Bartels: Jedenfalls könnte man auf die Idee kommen, dass da gerade ein Richtungswechsel vollzogen wird. Aktuelle Stichworte heißen nukleare Teilhabe, Verteidigungshaushalt, bewaffnete Drohnen. In den Beschlüssen der SPD kommt das Wort Bundeswehr kaum noch vor. Wenn so die Sozialdemokratische Partei neu positioniert werden sollte zwischen Grünen und Linkspartei, hielte ich das für einen schweren strategischen Fehler. Die SPD muss Politik aus der sozialen und politischen Mitte heraus machen.

 

WELT: Wie blicken Sie generell nach fünf Jahren in diesem überparteilichen Amt des Wehrbeauftragten auf Ihre Partei?

 

Bartels: Bisher hat die SPD in ihren Koalitionen – ich habe das mehr als 22 Jahre begleiten können – immer versucht, deutsche Verantwortung in Europa und im Westen bewusst wahrzunehmen. Wir stehen gegen autoritäre Regime, gegen aggressive Außenpolitik, gegen die Versuche einer neuen Interessensphärenpolitik, wie sie Putin betreibt. Aber das Bekenntnis zu sicherheitspolitischer Verantwortung und Wehrhaftigkeit ist ziemlich leise geworden. Deutschland ist die größte Nation in Europa, die zweitgrößte in der Nato, die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hatte völlig recht, als er damals noch als Außenminister sagte: Deutschland kann nicht an der Seitenlinie stehen, es ist viel zu groß dafür.

 

WELT: Verliert die SPD die internationale Perspektive? Die Forderung nach einem Abzug der US-Atomwaffen aus Deutschland hätte ja vielfältige Konsequenzen für die Nato-Partner, wird aber vor allem aus nationalem Interesse betrieben.

 

Bartels: Es hat schon mal einen Wahlkampf gegeben, in dem dafür geworben wurde, in nationalem Interesse SPD zu wählen: 1983. Da ging es gegen den Nato-Doppelbeschluss und die Politik des eigenen Ex-Bundeskanzlers Helmut Schmidt. Das hat damals in die Opposition geführt. Das würde es wohl heute auch.

 

WELT: Hat es Sie verletzt, dass Fraktionschef Rolf Mützenich Sie trotz parteiübergreifender Anerkennung für Ihre Arbeit nicht wieder vorgeschlagen hat für das Amt des Wehrbeauftragten?

 

Bartels: Überrascht, ja. Und es gab auch keine Blumen in der Fraktion.

 

WELT: Haben Sie Feedback aus der Fraktion auf Ihren Brief bekommen, in dem Sie Ihre Ratlosigkeit ob der Nichtnominierung bekundeten?

 

Bartels: Klar, unter vier Augen sagten viele Kolleginnen und Kollegen, das sei eine, ich zitiere, Sauerei gewesen. Aber Fraktionsdisziplin und Koalitionsräson sind stark – und ja auch nötig in Krisenzeiten wie diesen. Insofern ist die gute Nachricht: Der Apparat funktioniert, die Karawane zieht weiter.

 

Quelle: Die Welt

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