Mitte Juni fand in Brüssel eine Konferenz statt, zu der Unternehmer und Politiker, die sich vorwiegend mit Wirtschaftsthemen befassen, zusammenkamen.
Dort wurde schon darüber gesprochen, dass die Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zu Russland doch schnell wieder wie früher gepflegt werden könnten, wenn dieser schreckliche Krieg endlich – vor allem bald – zu Ende sei. Als dann ein Sicherheitspolitiker die munter planende Runde mit der Erkenntnis konfrontierte, dass es wohl nie mehr wie früher werden wird, zumindest nicht so, solange Putin in Moskau herrsche, blickte er in ungläubige Gesichter.
Diese wahre Episode zeigt, dass auch vier Monate nach dem Überfall Putins auf die Ukraine die Tragweite der Ereignisse noch immer verdrängt wird. Was in der Ukraine passiert, ist das – zumindest vorläufig – Ende einer regelbasierten internationalen Ordnung. Es gibt kaum eine rechtliche Bestimmung, die Putin nicht gebrochen hat. Er beweist auch, dass er keine menschlichen Regungen hat. Es ist brutale Machtpolitik. Dass diese nicht nur mit militärischen Mitteln bekämpft werden kann, erleben wir jeden Tag.
Aber die Themen des Brüsseler Treffens sagen auch, dass es keinen breiten Konsens darüber gibt, dass Putin in jeder Hinsicht kein Partner mehr sein kann. Immer wieder wird darüber nachgedacht, ob es mit Putin Kompromisse geben kann, was man ihm anbieten könnte. Die Gedanken laufen in die Irre: Putin will keine Kompromisse. Und wenn er einen einginge, könnte man sofort die Szenerien formulieren, wann er an seiner Expansionsschraube weiterdreht. Der Westen hat in Georgien schwach reagiert, dann kam die Krim. Er hat bei der Krim schwach reagiert, dann kam der Donbass. Er hat da schwach reagiert, jetzt kam die Ukraine. Ein Kompromiss stillt den Hunger Putins nicht.
Es ist in den letzten Wochen viel darüber geschrieben und gesagt worden, dass in Deutschland sehr viele sehr lange davon ausgegangen sind, dass mit Putin vieles gemeinsam gemacht werden kann, wenn man ihn durch Handel einbindet. Dabei wurden alle Lektionen nicht beachtet, die man bei anderen Gelegenheiten predigt: In der Sicherheitspolitik spielen fast alle anderen Politikbereiche neben dem militärischen eine Rolle. Jemand, der verbales Säbelrasseln in vielen Themen praktiziert, wird nicht zum Lamm, wenn man ihm Öl abkauft. Das gilt für Putin spätestens seit seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007.
Es geht also um das Mindset in unserer Gesellschaft. Man muss endlich wahrnehmen, dass die Zeiten langfristiger frostig sind. Diesem Klimawandel müssen wir Rechnung tragen – vor allem als Gesellschaft. Wir müssen uns darauf einstellen, dass sich bei uns die Lebensverhältnisse ändern werden. Das Ausmaß können wir noch nicht absehen. Aber die Hoffnung auf ein Comeback des alten „Business as usual“ trügt. Das betrifft auch die Bundeswehr. Sie wird nun anders alimentiert, sie kann nun vieles aufholen, was in den Jahren nach 1980/90 mit damals anerkannten Begründungen abgebaut wurde. Daraus können viele schon ablesen, dass sich im politischen Umfeld etwas verändert. Noch ist dieses Wissen um die Ernsthaftigkeit der gegenwärtigen Lage in der Bundeswehr nicht sonderlich verinnerlicht. Man weiß rational, dass sich die Lage verschlechtert hat, aber – sagen wir so – nur im Dienst. Wie die Bevölkerung insgesamt ist auch bei den Bundeswehrangehörigen allenthalben der Wunsch nach einer politischen Verständigung groß, auch wenn man die Chance und Folgen nicht abschätzen will.
Es gibt erste Handouts für die Vorgesetzten in der Bundeswehr, die den politischen Unterricht abhalten sollen und müssen. Das hilft vor allem bei der Information über den konkreten Kriegsverlauf. Das muss aber noch tiefer gehen. Vor allem muss sichergestellt werden, dass alle Verbände der Bundeswehr diese politische Unterrichtung erreicht. Da ist noch einiges zu tun, denn auch die Vorgesetzten in der Bundeswehr neigen oft noch dem gesellschaftlichen Mainstream zu. Nimmt man das alles zusammen, kommt man an dem Ergebnis nicht vorbei, dass der Bevölkerung und den Bundeswehrangehörigen der Ernst der Lage noch viel deutlicher gemacht werden muss. Das muss die politische Führung des Landes leisten. Eine Zeitenwende-Rede, die durch Worte und Taten schnell wieder relativiert wurde, reich da nicht aus. Wer aber kann die nächste Rede dieser Art mit dem entsprechend nötigen Nachdruck halten?
Quelle: Europäische Sicherheit & Technik (Rolf Clement)